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Donnerstag, 13. April 2017

BILANZ Kolumne.
Die große Verführungskraft von Marken.

Warum kaufen wir Produkte eines bestimmten Unternehmens und ignorieren die vielen anderen Hersteller? Das Geheimnis liegt in unserem Unterbewusstsein, das von der Werbung gesteuert werden kann.

Unser Ich ist nicht der unumschränkte Herr in unserem Haus. Es denkt zwar, dass es entscheidet. Aber tatsächlich ist es meist unser Unterbewusstsein, das Entscheidungen trifft. Unser Verhältnis von Bewusstsein und Unterbewusstsein ist wie ein Eisberg: Das Bewusstsein schwimmt mit nur einem Siebtel seiner Masse über dem Wasser, das Unterbewusstsein, mit seinen sechs Siebtel dagegen, schwimmt unterhalb der Wasseroberfläche.

Das kognitive Bewusstsein ist wie der Regierungssprecher Seibert, der Entscheidungen verkündet, welche die Kanzlerin Merkel getroffen hat – und bei deren Entscheidungsfindung er nicht anwesend, geschweige denn beteiligt war. Das nennt man die Benutzer-Illusion. Wir glauben, dass wir der Herr im Haus sind – tatsächlich sind wir oft nur der Diener unseres limbischen Systems.

Menschen können daher zwar tun, was sie wollen, aber sie können nicht wollen, was sie wollen. Das ist auch der Grund, warum Menschen nicht tun, was sie sagen, nicht sagen, was sie denken, und denken, was sie fühlen.

 
Eine Folge: Circa 85 Prozent unserer (Konsum-)Entscheidungen erfolgen laut wissenschaftlichem Konsens emotional; intuitiv sind wir ständig auf Belohnungen aus.

Markenbotschaften versuchen unsere Konsumentscheidungen daher derart zu beeinflussen, dass sie auf unsere Gefühlswelt, sprich unsere emotionalen Vorlieben und emotionalen Vorurteile einwirken – und das konstant. Sei es im öffentlichen Raum oder im privaten Raum – offline oder online.

 
Über Bauchentscheidungen zu mehr Kreativität

Diese hohe Relevanz der Gefühle wird durch ein aktuelles Phänomen in Zukunft noch erhöht werden: Wir leben heute in der vielleicht komplexesten Welt der Menschheitsgeschichte. Die Globalisierung und Digitalisierung überfordert kognitiv jeden von uns mit all den produzierten Daten, Informationen und Erkenntnissen. Je mehr wir wissen, umso weniger fühlen wir zu diesem Wissen. Kurzum: Wissen belastet.


Weil unser Leben so komplex geworden ist, dass wir es meistens nicht mehr verstehen, geschweige denn kontrollieren können, werden unsere Gefühle und unsere Intuition für unser Handeln in Zukunft noch bedeutender, so meine These. Wir entscheiden immer mehr nach einer gefühlten Analyse bzw. Sachlage, weniger nach einer rationalen.

Aber: Ich bewerte die heutige und zukünftige Überforderung von Mensch und Gesellschaft grundsätzlich nicht negativ, sondern positiv. Denn all diese Entscheidungs-Überforderungen und Beunruhigungen führen oftmals zu Reibungen, aus denen – öfter als man denkt – erst kreative Energie und dann Neues hervorgeht. Neues wie zum Beispiel tolle Marken mit tollen Produkten.

Nur wenn unsere Umweltbedingungen also ständig im Wandel sind, wenn der Druck von außen hoch ist, entsteht Fortschritt: politischer Fortschritt, gesellschaftlicher Fortschritt, wirtschaftlicher Fortschritt. Statische Bedingungen – bzw. Luxus-Bedingungen, in denen Honig und Milch fließen – sind am Ende immer Rückschritt.

Dynamische Stabilität als Erfolgstreiber

Nur Marken, die sich der ständigen Herausforderung des Wandels, und damit des Spannungsfeldes aus Tradition und Innovation stellen, die sich also bewegen und verändern, sind Living Brands. Bei Goya nennen wir diesen Erfolgstreiber: die dynamische Stabilität. Eine Dynamik, die aus Innovation und Emotion entsteht. Und eine Stabilität, die aus Tradition und Strategie hervorgeht.

Sie ist der Jackpot des Marketings: Ein Markenexperte sollte immer ein Experte der Ökonomie, der Psychologie und der Neurologie sein. Markenführung ist eine interdisziplinäre Disziplin. Warum Neurologie? Im Marketing geht es vorrangig um die Beeinflussung von Kundenentscheidungen. Die neuronale Aktivität ist sehr wahrscheinlich ursächlich für das (Konsum-)Entscheidungsverhalten.

Es ist also sehr hilfreich in unserem Job, den Menschen sprichwörtlich ins Gehirn zu schauen. Denn wenn wir verstehen, wie im menschlichen Gehirn Entscheidungen getroffen werden, dann haben wir den Jackpot des Marketings geknackt. Im Gegensatz zu einigen Kollegen bin ich übrigens der Ansicht, dass wir auf dieses Ereignis noch sehr lange warten müssen.

Wie funktioniert die Verführung durch Werbung?

Marken und Werbung sind omnipräsent in unserem Alltagsleben. Auch wenn wir nicht immer alles bewusst wahrnehmen, können wir unser Wahrnehmungssystem nicht daran hindern, immer so viel wie möglich wahrzunehmen. Ausnahmen wie die selektive Aufmerksamkeit bestätigen diese Faustregel.

Nahezu alle werblichen Verführungsversuche unseres Konsumverhaltens erfolgen daher unbewusst, denn wir nehmen in einer Sekunde nur 40 Bits an Informationen bewusst, aber elf Millionen Bits (!) unbewusst auf. Jeden Tag sind Menschen in der westlichen Welt einer Lava von mehr als 6.000 Werbebotschaften ausgesetzt – und viele von diesen Botschaften wirken ohne bewusst wahrgenommen zu werden.

Warum sind nun einige dieser Verführungen via Marken erfolgreich, während die meisten werblichen Verführungsversuche wirkungslos bleiben? Wie funktioniert die Verführung durch Marken?

Die Quelle für unsere Anfälligkeit gegenüber Marken-Verführungen basiert vor allem auf der Tatsache, dass der Mensch kein rationales Lebewesen, sondern ein intuitives und fantasiebegabtes Wesen ist. Und auf den folgenden zwei Grundbedürfnissen:

Erstens, dem „Wir“-Bedürfnis. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er sucht die Zugehörigkeit zum Stamm, zur Nation, zur Marken-Community. Wir alle wollen geliebt und respektiert werden – sowohl von unseren Freunden als auch von Fremden. Die Meinungen und Geschichten von Freunden wie Fremden, sowie deren Verhalten beeinflussen unsere Gedanken, Motivation und Wünsche stark. Dieses Phänomen nennt man soziale Ansteckungseffekte. Die sozialen Rahmenbedingungen beeinflussen unser (Konsum-) Verhalten maßgeblich.

Obwohl wir von uns glauben, freie Individualisten mit einem freien Willen zu sein, orientieren sich viele Menschen etwa an den öffentlich geteilten Wörtern und Bildern anderer Menschen auf Facebook, Youtube, Instagram etc. De facto sind alle in sozialen Medien aktiven Menschen sogenannte Influencer, die andere Menschen mit ihren Posts „anstecken“.

Dabei spielt es keine Rolle, ob uns hippe Blogger auf Instagram Astra-Bier anpreisen oder meine geschätzte Kreativkollegin Kathrin postet, dass sie abends gerne das Kultbier „Waldhaus“ aus dem Schwarzwald mit ihren Freunden trinkt. All das beeinflusst uns, weil Menschen – bewusst oder unbewusst – bei anderen Hilfe, Rat, Aufmerksamkeit etc. suchen.

Marken sind das Versprechen auf Inklusion und unendliche Möglichkeiten

Die Angst vor sozialer Exklusion und die Sehnsucht nach Konformität sind also starke Treiber unseres Denkens und Verhaltens. Die meisten Menschen fürchten sich daher vor der Einsamkeit – und sehnen sich nach der Verführung durch Zweisamkeit bzw. Zugehörigkeit zu von ihnen geschätzten Gruppen.

Erste Erkenntnis: Marken sollten immer sinnliche Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft versprechen. Sie sollten das Narrativ der „Gastfreundschaft“ erzählen, indem sie Konsumenten zur Gemeinschaft und zur Freundschaft einladen. Jede Marke sollte daher ihr eigenes Marken-Milieu kreieren, von dem eine große Ruhe oder große Dynamik sowie Verführungskraft ausgeht.

Zweitens, das Ich-Bedürfnis. Das Wichtigste im Leben der meisten Menschen ist er selbst. Menschen drehen sich 24/7 um ihre persönlichen Bedürfnisse, bzw. sinnlichen Empfindungen. Sie streben nach Lust – und meiden die Unlust und den Schmerz. Anders formuliert: Menschen sind lieber die bösen Egoisten als die dummen Hedonisten.

Was des Einen Lust ist, kann zwar für Andere Schmerz sein – und umgekehrt. Aber in der Regel wollen wir alle Wohlstand im Sinne von gutem Essen, einem schönen Zuhause, einem guten Job und vor allem Sicherheit; also frei von physischer und psychischer Gefahr.

Zweite Erkenntnis: Marken sind ein Versprechen auf unendliche Möglichkeiten; sie verführen uns etwa dazu, an die Illusion auf eine sorgenfreie, angenehme Zukunft zu glauben.

Ein Fazit

Wir alle sind fiktions- und verführungsbedürftig. Wir alle sind verrückt nach aufregenden Möglichkeiten und spannenden Überraschungen. Wir alle sind dem „nackten“ Infotainment-Angebot des Internets müde und sehnen uns nach verborgenen Erzählungen. Wir alle sind gleichzeitig Verführer und Verführte.

Wahrscheinlich sind Verführungen und die ihnen innewohnenden Geschichten und Fantasien das berühmte Salz in der Suppe unseres Lebens. Marken, die nun die Kunst der authentischen Verführung, der Matrix der Verführung, beherrschen, nennen wir starke Marken.

Im Fall von Marken bedeutet die Survival of the fittest daher, dass der beste Verführer der Fitteste ist. Die fantasielosen Marken hingegen flüchten sich in die Realität ihres Produktes. Sie trauen sich nicht, ihre Geschichte in einem erzählerischen (Marken-) Gesamtzusammenhang zu kommunizieren.

Sie trauen sich nicht, ihre Kunden zu verführen. Für mich haben diese Marken eine Art Minderwertigkeitskomplex, der dazu führt, dass es all diese vielen ungenutzten Markenreserven in der Praxis gibt. Welch’ eine Verschwendung!

https://www.welt.de/wirtschaft/bilanz/article163586364/Die-grosse-Verfuehrungskraft-von-Marken.html

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